Mensch oder Künstliche Intelligenz? Was unterscheidet den Menschen hinsichtlich seiner Hirnleistung von der Rechenleistung eines Computers? Der folgende Auszug aus Die Achtsame Revolution gibt einen kurzen Ausblick auf diese zentrale Fragestellung unserer Zeit: Künstliche Intelligenz KI vs Mensch – Ein Verlorenes Rennen?
Was befähigt Menschen, komplexe Aufgaben zu meistern, wie Tennis zu spielen oder das Verhalten eines Managers in einer Besprechung zu antizipieren? Eine Antwort liegt im allgemeinen architektonischen Unterschied zwischen Gehirn und Computer: Letzteres erledigt Aufgaben weitgehend in seriellen Schritten. Computer berechnen sequentielle Kaskaden von Anweisungen mit hoher Präzision in aufeinanderfolgenden Schritten. Gehirne stützen sich hauptsächlich auf paralleles Rechnen und nutzen dabei ihre große Anzahl von Neuronen und ihre verteilte Architektur, die Billionen synaptischer Verbindungen ermöglicht.
Bei jeder Aktivität sendet das Gehirn viele verschiedene elektrische Signale parallel durch den Körper. Der motorische Kortex des Gehirns – der Teil der Großhirnrinde, der für die motorische Steuerung zuständig ist – arbeitet ebenfalls, indem er seine Befehle parallel sendet, um Muskelkontraktionen in verschiedenen Teilen des Körpers auszulösen. Die stärker verteilte Architektur des Gehirns mit Neuronen, die Signale an viele andere Neuronen senden und entgegennehmen, im Vergleich zu einer begrenzten Anzahl von Eingangs- und Ausgangsknoten von Computertransistoren, ist für die Überlegenheit des Gehirns bei vielen Aufgaben verantwortlich.
Und das ist noch nicht alles. Dank einer inhärenten Erinnerungsfähigkeit kann die Verbindungsstärke zwischen Neuronen als Reaktion auf Aktivitäten erhöht werden: Ausgelöst durch die Wiederholung ähnlicher Aktivitäten lernt und verbessert der Mensch seine Fähigkeiten, da neuronale Schaltkreise zunehmend besser konfiguriert werden. Die kontinuierliche Wiederholung bestimmter Aktivitäten wird weithin als die wichtigste Ursache für hervorragende Leistungen angesehen. Wenn man die Fähigkeit des Gehirns zur Neuverdrahtung hinzufügt, sind wir Menschen mit Supercomputern ausgestattet, die es uns ermöglichen, Aufgaben auszuführen, die von Maschinen (bisher) nicht lösbar sind.
Noch immer unmöglich: In den letzten Jahrzehnten haben Software-Ingenieure bemerkenswerte Fortschritte erzielt, indem sie mehrere Prozessoren in einen einzigen Computer einsetzten, das sog. Parallelcomputing, oder mehrere Schichten verwenden, die immer abstraktere Merkmale aus dem Bereich des Deep Learning darstellen. Maschinelles Lernen und Quantencomputing werden den Computer immer näher an die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns heranführen – zumindest an jene, dererwir uns heute bewusst sind.
Das am stärksten unterbewertete Gut des Menschen
Aufgrund der allgemeinen Überlegenheit des Gehirns in Bezug auf Flexibilität und Verallgemeinerbarkeit sollte sich der Mensch nicht damit zufrieden geben, Computer zu verbessern, sondern vielmehr darüber nachdenken, wie er sich selbst verbessern kann. Alles, was Ingenieure in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, ahmt letztlich das nach, wozu unser Gehirn bereits in der Lage ist. Wie könnte es auch anders sein? Alle Ingenieure benutzen ihre Gehirne, um Computer zu bauen. In Vorbereitung auf einen Paradigmenwechsel, der durch Künstliche Intelligenz ausgelöst wird, indem intelligente Maschinen die Macht übernehmen und ihre überlegene Rechengeschwindigkeit ausnutzen, sollten sich die Menschen an die oben erwähnten inhärenten Eigenschaften ihres Gehirns erinnern: Flexibilität, Generalisierbarkeit und Anpassbarkeit: Neuroplastizität.
Im Wissen, dass sich Training positiv auf die Leistungsfähigkeit auswirkt, befassen sich Millionen von Menschen in täglichen Trainingseinheiten mit allen Arten körperlicher Übungen. Was wäre, wenn wir die Sinnhaftigkeit eines mentalen Trainings auf die gleiche Weise verinnerlichenwürden wie des körperlichen Trainings? Was, wenn wir uns an das ungenutzte Potenzial unseres Gehirns erinnerten und wir aufhörten, fahrlässig mit den fantastischen,ungehobenen Potenzialen des Gehirns umzugehen? Was wäre, wenn wir uns nicht nur theoretisch typischer menschlicher mentaler Voreingenommenheiten bewusst würden, sondern aktiv daran arbeiten würden, sie zu bekämpfen, indem wir unser Wissen über mentale Modelle, wie Gedankenexperimente, Denken zweiter Ordnung, probabilistisches bzw. Bayessches Denken oder Occams und Hanlons Rasiermesser nutzten? Diese Modelle sind seit (Hunderten von) Jahren bekannt, aber haben sie ihren Weg in den allgemeinen Bildungskanon gefunden? Nein, haben sie nicht. Warum nicht?
Das menschliche Gehirn ist das am stärksten unterschätzte Gut, das wir uns vorstellen können – und es ist der beste Ausgangspunkt für die Lösung vieler Herausforderungen, von einer potenziellen Bedrohung durch intelligente Killerroboter bis hin zur Klimakrise. Unser Gehirn ist das Kernstück der nächsten Evolutionsstufe der Menschheit – der Achtsamen Revolution.
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch Die Achtsame Revolution, von Michael Reuter
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